Atemtherapie nach Ilse Middendorf
Atem lernen? Wir atmen alle, das geht doch von selbst.....
Und doch – was selbstverständlich scheint, ist oftmals nicht mehr so, wie es sein könnte. Wir eignen uns im Laufe der Jahre Atemmuster an die unsere Lebensweise wiederspiegeln und für uns nicht mehr optimal sind. Das wird uns erst bewusst, wenn wir in Atemnot geraten, erschöpft und unruhig sind, schlecht schlafen und Leistungsfähigkeit, Wohlbefinden und Lebensfreude verloren gehen.
Nach Operationen oder schweren Infekten kann die Atmung verändert, dysfunktional sein, so dass eine Atemtherapie hilfreich sein kann, um wieder freier und leichter atmen zu können.
Ilse Middendorf - Grande Dame der Atemtherapie
Die deutsche Atemtherapeutin und Begründerin der Atemlehre „Erfahrbarer Atem“ lebte von 1910 bis 2009.
1928 besuchte Ilse Middendorf die Atemschule von Hedwig Andersen und Klara Schlaffhorst und absolvierte später eine Ausbildung am Institut für Atem- und Nervenpflege. Schon mit Mitte 20 eröffnete sie ihre eigene Praxis in Berlin. Das heute als Ilse-Middendorf-Institut bekannte Institut für Atemunterricht und Atemtherapie gründete sie 1965. Sechs Jahre später lehrte sie schließlich als Professorin Atem- und Körperbildung an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst.
Ziele der Atemtherapie
Sich dem Atmen bewusst zuwenden und so In-Kontakt-Treten mit dem eigenen Körper gehört zu den wichtigsten Aspekten dieser Atemtherapie. Mit der Atmung werden die Körperströme zum Fließen angeregt, die Sauerstoffversorgung in allen Bereichen des Körpers angeregt und gefördert. So werden Verspannungen gelöst und Krankheitssymptome
können sich mildern oder auch verschwinden.
Neben den körperlichen Aspekten hat die Atemtherapie auch Einfluss auf das seelische Wohlbefinden. Mit Hilfe des erfahrbaren Atems können Seele, Leib und Geist (wieder) ins Gleichgewicht kommen. Sie stärkt, erdet und weckt Kreativität, Lebenskraft und Lebensfreude.
Arten des Atmens
Nach Middendorf gibt es drei Arten zu atmen:
→Unbewusstes Atmen
→Willentliches Atmen
→Erfahrbares Atmen
der unbewusste Atem
Jeder Mensch atmet ein und aus, ganz automatisch und zumeist ohne besonders darauf zu achten. Der Atem ist „ einfach da“. Bei Angst ist er flach, bei Schreck wird er angehalten, bei Entspannung ist er tief und ruhig. Der Atemimpuls wird vom Gehirn gesetzt und dient der Homöostase- das Blut wird mit O2 angereichert, CO2 als Abbauprodukt des Stoffwechsels wird ausgeatmet. Der Atemrhythmus variiert je nach Bewegung und psychischer Verfassung. Eine Atemruhe kann bei entspannter Verfassung lange, bei Aufregung, starker körperlicher Anstrengung kurz oder gar nicht vorhanden sein.
der gesteuerte Atem
Im Gegensatz zu anderen vom autonomen Nervensystem gesteuerten Vorgängen ist die Atmung unserem Bewusstsein leicht zugänglich- wir können sie steuern und trainieren. Willentliche Steuerung der Atmung wird vielfältig eingesetzt. Im krankengymnastischen und körpertherapeutischen Bereichen, im Sport, im Yoga und auch im Gesangsunterricht. Hierbei ist die Atmung Mittel zum Zweck. Eine Atemübung wird eingesetzt zum Beispiel zur Verbesserung der Laufleistung.
der „ Erfahrbare Atem“
Beim „ Erfahrbaren Atem “ ist die Aufmerksamkeit darauf gerichtet den Atem wahrzunehmen, den Atem zu empfinden . Wir schulen uns in der Fähigkeit offen zu werden für (Atem)-Erfahrung ohne den Atem willentlich zu steuern. Der Atem wird nicht gespürt, damit wir etwas besser ausführen als zuvor, die Empfindung selbst ist der Zweck.
Nach und nach breitet sich der Atem von selbst aus, löst Blockaden und führt zu einer Verbesserung des physischen und psychischen Befindens, eine klangvollere Stimme, einer klareren Intuition.
Ilse Middendorf spricht von der Dreiheit: atmen, sammeln, empfinden.
Diese sind die Grundlage des Übens am Erfahrbaren Atem.„ wir lassen unseren Atem kommen, wir lassen ihn gehen und warten, bis er von selbst wieder kommt“, so Ilse Middendorf.
Atem ist Bewegung
Jeder Atemzug ist ein fortwährendes Weitwerden und Zurückschwingen der Körperwände. Diese Bewegungswelle setzt sich fort durch unseren ganzen Leib. Mit dem Zulassen des Atems und seiner Bewegung lassen wir das Leben zu. Bewegung ist Leben. Das Erwachen unseres Leibes lässt uns Gesetzmäßigkeiten erfahren und wir erleben, dass wir in eine größere Ordnung eingebunden sind.
Atem ist Rhythmus
Ein Atemzug besteht aus Einatem, Ausatem und Atemruhe. Sind diese Drei ausgewogen, sind wir ausgeglichen. Der Atemrhythmus ist ein Spiegelbild aller Zustände des Menschen. In ihm erkennen wir unsere Lebens- und Verhaltensmuster. Diese Bewusstwerdung führt uns in die Verantwortung und schenkt uns die Freiheit, zu wählen. "Ich lasse den Atem kommen, ich lasse den Atem gehen und ich warte, bis er von selbst wiederkommt." (Ilse Middendorf)
Atem ist Begegnung
Wenn wir uns in Hingabe und Achtsamkeit unserem Atem zuwenden, begegnen wir uns selbst. Uns kann bewusst werden, wie wir mit dem Atem und damit mit uns selbst und dem Leben umgehen. Eine Entwicklung beginnt und das Erkannte wirkt hinein in den Alltag. So entsteht ein tiefes Selbstverständnis, Gelassenheit und Vertrauen in die eigene Lebenskraft. Wir schaffen eine gute Voraussetzung für die Begegnung mit der Umwelt und den Mitmenschen.
Atem ist Kraft
Diese Lebenskraft zu behindern ist enorm anstrengend und kostet uns viel. Wenn wir entdecken, wie wir diese Kraft behindern und was uns die Luft abschnürt, erhalten wir die Möglichkeit, einzuwirken. Wir können entscheiden, was wir tun und wo wir lassen wollen. Indem wir durchlässig werden, erleben wir Leichtigkeit, Gelassenheit, im Fluss sein, Freude. Im freien Atmen lebt das Leben durch uns.
Atem ist Stimme
Sprechen und Singen sind hörbare Atemkraft. Ein wohlgespannter Körper lässt unsere Stimme und unser ganz persönliches Klangbild aufblühen. Ein freier Atem lässt uns ohne Anstrengung sprechen und singen.
Wie geht das – Atemtherapie?
Atemtherapie wird in Einzelsitzungen oder in der Gruppe angeboten. Die Klientinnen und Klienten lernen, sich bewusst zu machen wie sie atmen und welche Einflüsse den Atem verändern.
Die Einzeltherapie wird individuell gestaltet. Während der Atembehandlung liegt die Klientin/ der Klient bekleidet auf einer bequemen Liege. Die Atemtherapeutin unterstützt durch Berührung, Bewegungen und Dehnungen die individuelle Atembewegung. Schlüsselelement ist das «Geschehen lassen» des Atems. Der Atem soll unmittelbar erfahren und aufmerksam wahrgenommen werden. Ergänzt wird die Einzelsitzung durch Atem-, Körper- und Achtsamkeitsübungen und das persönliche Gespräch.
In der Gruppe steht selbstständiges Üben unter Anleitung im Sitzen, Liegen und Stehen im Vordergrund. Die Übungen können in den Alltag integriert werden.
Atem ist auch hörbar: Stimm- und Sprechübungen verändern unsere Stimme, die Stimmkraft und Klangfarbe.
Wie wirkt Atemtherapie?
Der Atem reagiert auf jede Berührung, Bewegung, jeden Gedanken und jedes Gefühl. Mit zunehmender Empfindungsfähigkeit werden Veränderungs- und Entwicklungsprozesse möglich, welche die Gesundheit und persönliche Entfaltung fördern. Mit einer veränderten Körperhaltung erhalten Sie Atemraum und damit auch Lebensraum und können mit mehr Spannkraft Ihr Leben meistern. Durch Atemtherapie werden Sie körperlich und mental ausgeglichener und Ihr Selbstbewusstsein wird gestärkt. Atemtherapie stärkt selbstverantwortliches Handeln in Beruf und Alltag.
Sie erleben, dass der Atem der Ausdruck von Lebenskraft ist, welcher uns bewegt und uns trägt. Richtiges atmen schenkt uns Vitalität und Lebensfreude und ermöglicht Ruhe und Gelassenheit.
Die Atemtherapie nach Middendorf
kann sehr effektiv eine medizinische Behandlung unterstützen u.a bei:
· Atemwegserkrankungen (Asthma, Bronchitis, Emphysem)
· Funktionelle Atemstörungen
· Erschöpfungszustände ( innere Unruhe, Schlafstörungen, Ängste)
· Psychosomatische Störungen
· Chronische Schmerzen
Darüber hinaus fördert die Atemtherapie das Wohlbefinden und ist ein Weg der Selbsterfahrung und der persönlichen Entfaltung.
Weiterführende Informationen
Berufsvereinigung der AtemtherapeutInnen/-pädagogInnen des Erfahrbaren Atems nach Prof. Ilse Middendorf e.V.: https://www.erfahrbarer-atem.de
Arbeits-und Forschungsgemeinschaft für Atempflege e. V.: https://www.afa-atem.de
Quellen:
Der Erfahrbare Atem nach Ilse Middendorf, in: Rega Rutte, Sabine Sturm: Atemtherapie, 2. Auflage, Springer-Medizin-Verlag, (Berlin 2010)
https://krank.de/behandlung/atemtherapie-nach-middendorf/
www.atemtherapieammeer.de
Interview mit Sigrid von der Lancken, Krankenschwester, Atemtherapeutin
Frau von der Lancken, Sie sind ausgebildete Krankenschwester mit langjähriger Berufserfahrung - was hat sie persönlich zur Atemtherapie geführt?
Ilse Middendorfs Atemtherapie begeistert mich seit vielen Jahren. Meine persönlichen Gesundheitserfahrungen haben mich dazu bewogen, die Ausbildung zur Atemtherapeutin zu machen und positive Erlebnisse auf diese Weise weiter zu geben.
Was fasziniert Sie persönlich an dem Erfahrbaren Atem nach Ilse Middendorf?
Besonders fasziniert mich Ilse Middendorfs Ansatz der Salutogenese. Der „Erfahrbare Atem“ orientiert sich an dem „heilen Kern“ des Menschen. Ein Entwicklungsprozess vom „Gesunden“ ausgehend wird gestärkt. Dadurch verliert das „Kranke“ an Kraft und Einfluss. Manchmal ist dieser heile Kern sehr klein und kaum spürbar, aber jeder Mensch hat diesen gesunden Anteil.
In der Atembehandlung orientiere ich mich am Atem des Klienten. Von dort ausgehend, wo der Atem sich zeigt, wird dieser mit Hilfe von erlernten Behandlungsgriffen weiter „ gelockt“. Deutlich ist an der Atembewegung spürbar, welche Griffe dem Klienten gut tun und welche nicht. Der Atem wird größer und ruhiger oder aber auch stockend und klein. Durch Sammlung in die eigenen Hände ist ein intensives „Atemgespräch“ mit dem Atem des Klienten als Ziel der Atembehandlung möglich. Ich sehe mich als Begleiter meiner Klienten, biete Wege an, die zur Selbstaktivierung für Veränderungen auf allen Ebenen genutzt werden können.
Bei welchen Erkrankungen/ Beschwerden kann die Atemtherapie hilfreich sein?
Die Atemtherapie kann eine medizinische Behandlung sehr erfolgreich unterstützen. Das gilt zum Beispiel bei Erkrankungen der Atemwege, bei Erschöpfungszuständen, psychosomatischen Störungen oder auch chronischen Schmerzen.
Wie kann eine therapeutische Einzelbehandlung ablaufen?
Eine Einzelbehandlung findet überwiegend im Liegen in bequemer Kleidung statt. Mit meinen Händen unterstütze ich die Klienten über lösende und belebende Griffe und Drehungen dabei, ihren Körper wieder deutlicher zu spüren. So kann sich der Atem mehr Raum nehmen, einengende Atem- und Lebensmuster werden bewusst und können sich wandeln. Übungen im Sitzen, in der Bewegung oder im Stand ergänzen diese Arbeit.
Was steht bei einer Gruppenbehandlung im Vordergrund?
In der Gruppe liegt das Hauptaugenmerk auf dem eigenständigen Üben. Einfache Übungen im Sitzen, im Stehen und in der Bewegung können helfen, den Körper und den Atem besser wahrzunehmen. Dabei wird der Atem angeregt, freier zu fließen, sodass mehr Beweglichkeit und mehr Empfindungsfähigkeit entstehen.
In dem eigenen Üben kann ich durch Hinwendung zum Atem mit der inneren Frage: wo spüre ich meinen Atem? Welche Qualität hat mein Atem? Den eigenen „heilen Kern“ in mein Empfindungsbewusstsein heben. Hierbei gilt es wahrzunehmen ohne zu bewerten oder verändern zu wollen.
Die Teilnehmer können Kraft und innere Stärke aus dem Atem schöpfen.
Ist diese Therapieform für jeden, also auch für Allergiker geeignet?
Auch Allergiker können von einer Atembehandlung profitieren. Nicht alle Symptome und Krankheiten verschwinden ausnahmslos, allerdings verhilft eine bessere Akzeptanz des Gesundheitszustandes so wie er sich zeigt, auch zu mehr Kraft und Lebensfreude. Die Atemtherapie nach Ilse Middendorf ist ein möglicher Weg in diese Richtung.
Frau von der Lancken, wir danken Ihnen für das Gespräch. Das Interview führte Cindy Maréchal.
Artikel erschienen in der Fachzeitschrift; Umwelt und Gesundheit 2022